Entscheidung G 1/24 der Großen Beschwerdekammer des EPA: Auslegung von Patentansprüchen

Entscheidung G 1/24 der Großen Beschwerdekammer des EPA: Auslegung von Patentansprüchen – Bedeutung für Praxis und Rechtsprechung

Am 18. Juni 2025 hat die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts (EPA) in der Sache G 1/24 eine Grundsatzentscheidung zur Auslegung von Patentansprüchen veröffentlicht. Diese Entscheidung bringt Klarheit in eine bislang umstrittene Rechtsfrage und ist sowohl für Patentanwälte als auch für Erfinder, Unternehmen und andere Interessierte von großer Bedeutung. Im Zentrum steht das Verhältnis zwischen Patentansprüchen, Beschreibung und Zeichnungen im Rahmen der Beurteilung der Patentierbarkeit.


Ausgangspunkt: Divergierende Rechtsprechung

Die Vorlageentscheidung T 439/22 betraf ein Patent für ein tabakbasiertes Aerosol erzeugendes Produkt der Firma Philip Morris, angefochten durch Yunnan Tobacco International. Streitpunkt war die Bedeutung des Begriffs „gathered sheet“ (zusammengefaltetes Blatt). Je nach Auslegung – eng nach dem allgemeinen Fachverständnis oder weiter im Lichte der Beschreibung – ergab sich eine unterschiedliche Beurteilung der Neuheit des Anspruchs.

Die Technische Beschwerdekammer sah widersprüchliche Rechtsprechung zur Frage, ob und wann bei der Auslegung der Ansprüche zur Beschreibung und zu den Zeichnungen herangezogen werden darf:

  • Eine Linie der Rechtsprechung vertrat die Auffassung, dass die Beschreibung und Zeichnungen nur bei Unklarheiten herangezogen werden dürfen.

  • Eine andere Linie befürwortete einen grundsätzlich umfassenden Rückgriff auf Beschreibung und Zeichnungen – unabhängig von Klarheit oder Unklarheit der Anspruchsformulierung.


Die drei Vorlagefragen

  1. Ist Art. 69 (1) Satz 2 EPÜ und Art. 1 des Protokolls über die Auslegung von Art. 69 EPÜ bei der Auslegung von Ansprüchen zur Prüfung der Patentfähigkeit nach Art. 52–57 EPÜ heranzuziehen?

  2. Dürfen Beschreibung und Zeichnungen generell zur Anspruchsauslegung im Rahmen der Patentfähigkeitsprüfung herangezogen werden, oder nur bei Unklarheiten?

  3. Darf eine in der Beschreibung gegebene Definition eines in den Ansprüchen verwendeten Begriffs ignoriert werden und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen?


Die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer

1. Zur Zulässigkeit

Die Kammer hielt die Vorlage für zulässig, da es sich um Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung handelt, deren Klärung für viele weitere Verfahren relevant ist. Frage 3 wurde jedoch als inhaltlich in Frage 2 enthalten und somit unzulässig beurteilt.

2. Zum rechtlichen Ausgangspunkt

Die Große Beschwerdekammer stellt klar:

  • Weder Art. 69 EPÜ noch Art. 84 EPÜ liefern eine völlig überzeugende Rechtsgrundlage für die Auslegung von Ansprüchen im Kontext der Prüfung auf Patentfähigkeit.

  • Art. 69 EPÜ und das Protokoll sind eigentlich für die Bestimmung des Schutzbereichs in Verletzungsverfahren gedacht.

  • Art. 84 EPÜ betrifft formelle Anforderungen (Klarheit, Stützung) und ist nicht explizit auf die Auslegung der Ansprüche zur Beurteilung der Patentfähigkeit ausgerichtet.

Trotzdem: Die Kammer betont, dass sich aus der bisherigen Rechtsprechung ausreichend gefestigte Auslegungsprinzipien ableiten lassen.


Die Kernaussagen (Tenor der Entscheidung)

„Die Ansprüche sind der Ausgangspunkt und die Grundlage für die Beurteilung der Patentfähigkeit einer Erfindung nach den Artikeln 52 bis 57 EPÜ. Die Beschreibung und Zeichnungen sind bei der Auslegung der Ansprüche stets heranzuziehen – nicht nur bei Unklarheiten oder Zweifeln.“

Dies bedeutet:

  • Die frühere Praxis, die Beschreibung nur bei unklaren Ansprüchen heranzuziehen, ist nicht mehr haltbar.

  • Die Beschreibung (und Zeichnungen) müssen immer berücksichtigt werden, wenn Ansprüche in der Prüfungs- oder Einspruchsphase interpretiert werden.

  • Die Entscheidung vereinheitlicht die Auslegungspraxis und harmonisiert sie mit der Vorgehensweise nationaler Gerichte und des Einheitlichen Patentgerichts (UPC).


Bedeutung für die Praxis

Für Patentanwälte:

  • Anspruchsformulierung gewinnt an Bedeutung: Die Begriffe in den Ansprüchen müssen mit der Beschreibung harmonieren.

  • Definitionen in der Beschreibung werden verbindlicher für die Auslegung der Ansprüche.

  • Strategien, die auf eine engere oder weitere Auslegung durch selektive Bezugnahme auf die Beschreibung setzten, verlieren an Wirkung.

Für Prüfer und Einspruchsabteilungen:

  • Bei der Beurteilung der Patentfähigkeit (Neuheit, erfinderische Tätigkeit) sind Beschreibung und Zeichnungen immer in die Auslegung der Ansprüche einzubeziehen.

  • Die Klarheitsprüfung nach Art. 84 EPÜ muss sorgfältig durchgeführt werden; unklare Begriffe sollten bereinigt, nicht ausgelegt werden.

Für Erfinder und Anmelder:

  • Präzise Definitionen und klare Sprache in der Beschreibung sind entscheidend.

  • Ein bewusstes Auseinanderfallen zwischen Anspruchsformulierung und Beschreibung kann nachteilige Folgen für die Auslegung und Patentierbarkeit haben.


Empfehlungen für die Praxis

  1. Anspruchsbegriff klar definieren: Wird ein technischer Begriff verwendet, sollte dessen Bedeutung eindeutig in der Beschreibung erläutert werden.

  2. Konsistenz wahren: Die Beschreibung muss die in den Ansprüchen verwendeten Begriffe korrekt und kohärent wiedergeben.

  3. Unklare Begriffe vermeiden: Wenn ein Begriff interpretationsbedürftig ist, sollte dies bereits bei der Anmeldung durch eine Definition vermieden werden.

  4. Keine „strategische Vagheit“: Der Versuch, durch vage Begriffe Spielraum für breite Auslegung zu gewinnen, ist rechtlich riskant und widerspricht der gefestigten Auslegungspraxis.

  5. Amtsverfahren aktiv begleiten: In Prüfungs- und Einspruchsverfahren sollte auf eine konsistente Auslegung gedrängt und bei Bedarf Klarstellung durch Änderung beantragt werden.


Fazit

Mit der Entscheidung G 1/24 schafft die Große Beschwerdekammer des EPA Rechtssicherheit und Klarheit in einem zentralen Bereich des europäischen Patentrechts. Die Pflicht zur ständigen Bezugnahme auf Beschreibung und Zeichnungen bei der Auslegung der Ansprüche setzt einen neuen Maßstab, an dem sich alle Verfahrensbeteiligten künftig orientieren müssen. Für die Praxis bedeutet dies: sorgfältige, konsistente und transparente Patentanmeldungen sind wichtiger denn je.

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